Regionales Landesamt für Schule und Bildung nimmt kurz vor Ende des Schuljahres die Streichung eines Förderprogramms für Menschen mit geistiger Behinderung zurück – Vorgehensweise ärgert Verein für Inklusion
Hannover, 12. Juli 2022. Diese Hängepartie hat nun ein Ende: Kurz vor den Sommerferien hat das Regionale Landesamt für Schule und Bildung (RLSB) doch noch die geplante Streichung des Förderprogramms für die berufliche Orientierung für Schülerinnen und Schüler mit einer geistigen Behinderung — kurz BOGE genannt – zurückgenommen. Dies teilte das RLSB als für die Umsetzung zuständige Stelle des Förderprogramms nun den Schulen mit, die sich hierfür beworben hatten. Somit haben Menschen mit geistigen Behinderungen auch nach dem Schulstart im August die Möglichkeit, sich während des Schuljahres beruflich zu orientieren und damit eine wichtige Basis für den Berufseinstieg, gegebenenfalls auch inklusiv für den allgemeinen Arbeitsmarkt, zu schaffen. Dieses betrifft vor allem Kinder in der Inklusion der neunten oder zehnten Klasse der allgemeinbildenden Schulen sowie der elften und zwölften Klassen der Förderschulen Geistige Entwicklung. Denn die finanzielle Unterstützung der Träger der beruflichen Bildung bleibt garantiert. Zielgruppe dieses Programms sind Schülerinnen und Schüler der Vorabgangs-oder Abgangsklassen mit dem Förderschwerpunk geistige Entwicklung, für die noch nicht feststeht, ob es eine Perspektive auf dem allgemeinen Ausbildungs- oder Arbeitsmarkt gibt.
„Wir sind zwar erleichtert, dass sich unser Einsatz für den Erhalt des Förderprogramms gelohnt hat. Aber wir empfanden es dennoch als Zumutung vom Landesamt, die Organisationen, die Lehrenden, aber vor allem die Schülerinnen und Schüler und ihre Eltern seit Wochen hinzuhalten. Da hat das Landesamt gerade so noch die Kurve gekriegt“, sagt Fachberaterin Christina Kletti von Mittendrin Hannover e.V. – Verein für Inklusion. Auch an den Schulen zeigen sich die Lehrenden erleichtert. Der Ärger jedoch über die vielen zusätzlichen Arbeitsstunden und Sitzungen, die für die Kompensation der lange als sicher geltenden Streichung angefallen sind, bleibt. „Als Lehrerin mache ich mir schon seit Monaten Gedanken, wie wir die Förder-Inhalte in die reguläre Unterrichtszeit mit eingebunden hätten. Wir haben uns auch schon mit weiteren Förderschullehrenden in der Stadt vernetzt und Arbeitsgruppen gegründet“, sagt eine Förderschullehrerin. „Dieser Mehraufwand wäre meiner Meinung nach vermeidbar gewesen“, so die Lehrerin weiter.
Auch Eltern sind erleichtert
Anne Ließ aus Hannover hat einen 15-jährigen Sohn mit Down-Syndrom. Sie meint: „Ich finde es gut, dass mein Sohn ab September jetzt doch die Möglichkeit hat, sich in seinem letzten Schuljahr beruflich zu orientieren. Dadurch kann er sowohl seine Stärken beziehungsweise Schwächen kennenlernen und berufliche Neigungen entdecken als auch in verschiedenen Betrieben Praktika machen, um dort erste Arbeitsabläufe kennenzulernen. Das wird für ihn sicherlich ein informatives und hoffentlich praktikumsbezogenes Schuljahr. Dann kann er vielleicht am Ende des Schuljahres 2023 sagen, welchen Beruf er erlernen möchte.“
Was Kletti von Mittendrin Hannover e. V. nach wie vor wütend macht: Während die finanziellen Mittel für Schülerinnen und Schüler mit einer geistigen Behinderung zur Disposition standen und dem Rotstift zum Opfer gefallen wären, hätten die Mittel für die generelle berufliche Orientierung der allgemeinbildenden Schulen fortbestanden. Denn diese, so teilte das Landesamt mit, seien erste Priorität. „Die Streichung der Gelder hätte demzufolge ausschließlich Menschen mit Behinderungen betroffen. Das ist überhaupt nicht zu vertreten. Schon allein die so lange währende Diskussion diskriminiert diese Menschen. Das ist nicht in Ordnung. Da wünsche ich mir mehr Sensibilität“, meint Christina Kletti.
Zum Hintergrund: Schülerinnen und Schüler mit einer geistigen Behinderung der neunten und zehnten Klassen der allgemeinbildenden Schulen und in den elften und zwölften Klassen der Förderschulen Geistige Entwicklung erhalten eine berufliche Orientierung, kurz BOGE genannt – Berufliche Orientierung geistige Entwicklung. Diese besteht aus drei Bausteinen, die aufeinander aufbauen und innerhalb zweier Schuljahre zu absolvieren sind. Dadurch sollen die Teilnehmenden erste Eindrücke über eigene Stärken, Potenziale und berufliche Neigungen erhalten, was wiederum eine wichtige Grundlage für eine erste Orientierung für mögliche Berufsfelder von jungen Menschen mit geistiger Behinderung ist. Die Bausteine dauern bis zu 14 Tage. So besuchen die Schülerinnen und Schüler einzelne Betriebe und lernen Berufsfelder und Arbeitsabläufe kennen. Fällt dieses Förderprogramm weg, so befürchten Schulen und die mit Inklusion befassten Organisationen, dass die Schülerinnen und Schüler am Ende ihrer Schullaufbahn kaum mehr Möglichkeiten erhalten, eine fundierte Berufswahlentscheidung zu treffen.